Vor rauer See
Was für ein Jahr! Die deutsche Regierung vergeigt eine Landtagswahl nach der anderen. Ihr sozialdemokratischer Juniorpartner verliert seinen angestammten Platz als eine der beiden „großen“ Parteien dieses Landes. Die „Alternative für Deutschland„ (AfD) ist, mit jeweils zweistelligen Ergebnissen, in allen deutschen Landesparlamenten vertreten und in Folge dieser Verschiebungen in den parlamentarischen Kräfteverhältnissen kündigt die Bundeskanzlerin ihren Rückzug auf Raten an.
International sind die Tagträume auch des deutschen linksliberalen Bürgertums, das US-Wahlvolk werde Donald Trumps Wahl zum Präsidenten quasi als Irrtum korrigieren, vor der grinsenden Visage dieses triumphierenden Wahlverlierers geplatzt. In Brasilien beendet die Wahl eines Anhängers der früheren brasilianischen Militärdiktatur zum Präsidenten eine jahrzehntelange Dominanz der linken Sozialdemokratie, die mit der Wahl Lulas begonnen hatte. Es bestätigt sich ein weiteres Mal die schon in den 70er Jahren in Chile blutig gelernte marxistische Einsicht, dass auf eine halb(herzig)e Revolution oft eine ganze Konterrevolution folgt.
Dies alles – die Labilisierung der Kräfteverhältnisse im führenden imperialistischen Staat Europas, die Verfestigung der Rechtsentwicklung in den USA, die drohende Faschisierung in Brasilien und weitere ähnliche Ereignisse auf unserem Globus – ist nicht Ergebnis plötzlicher Genialität rechter Politiker bei gleichzeitig seuchenartiger Demenz der Männer und Frauen, die den Kapitalismus in ihrem Land humaner gestalten wollen. Die politische Ebene ist wie das Kräuseln der Wasseroberfläche. Der Sturm, der sich vor unseren Augen zusammenbraut, entsteht nicht auf der Ebene der politischen Krakelereien. Er hat seine Ursache tief unten in den ökonomischen Grundlagen der kapitalistischen Wirtschaftsordnung, die seit 1989 weltweit allein das Sagen hat. Der Londoner „Economist“ – sozusagen die FAZ der weltweiten Bourgeoisie, ihr einflussreichstes Organ also – machte bereits im Oktober mit der Frage auf „The next recession – how bad will it be?“ und entfaltete auf mehreren Seiten eine seltsame Mischung aus Alarmglocken und Apathie. Denn, so das Blatt, diese Rezession sei nur eine Frage der Zeit und es werde weitaus schwieriger als 2007/8 sein, sie noch einmal abzuwehren.
Das alles deutet darauf hin, dass wir politisch in eine Phase rauer See geraten. Das gilt nicht nur für die Küstenregionen, die von der sich beschleunigenden Erwärmung unserer Erde am heftigsten betroffen sein werden. Das betrifft auch Menschen wie die im Göttinger Hinterland lebenden, die hoffen, scheinbar weit weg von Meeresstürmen in einem der reichsten Länder der Welt weiter vor sich hinmuckeln zu können. Das wird sich als Irrtum erweisen.
Abstürzende Aktienmärkte führen zu einer Hinwendung reicher Anleger zu Gold und Immobilien, deren Preise folglich steigen. Das schlägt mit Zeitverzögerung auf die Mieten durch. Die befristet in Göttinger Betrieben zu kargen Mindestlöhnen arbeitenden Männer und Frauen, die prekär Beschäftigten dieser Stadt, die Putzkolonnen der Kliniken und Universitäten, die Studentinnen und Studenten, die in Grone und anderswo nach günstigen Mietwohnungen suchen, werden das zu spüren bekommen. Spüren wird die Auswirkungen der sich zusammenbrauenden großen Krise auch unsere Provinzbourgeoisie, die noch größere Schwierigkeiten bekommen wird, die hiesigen Theaterbühnen vor dem Zerfall zu bewahren – was sie mehr bekümmert als die globale Bourgeoisie, die eh‘ ihre kulturellen Bedürfnisse in Hamburg, New York oder Tokio befriedigt. Der von Trump angeheizte Wettbewerb um möglichst niedrige Unternehmenssteuern, kombiniert mit dem Wettlauf um möglichst große Rüstungsausgaben wird die Spielräume für Investitionen und Bildung und Kultur weiter einschnüren.
Bertolt Brecht hat einmal geschrieben, die Linke müsse um das Teewasser kämpfen und um die Macht im Staat. Also kämpfen wir Kommunisten um günstigen Wohnraum in Grone genauso wie um den Erhalt unserer Kulturlandschaft in Göttingen. Darüber hinaus aber wissen wir, dass das alles nichts hilft, wenn nicht die ökonomischen Fundamente unseres Handelns neu gegossen werden. Die kapitalistische Konkurrenzwirtschaft führt – das wissen wir seit Karl Marx seine Bewegungsform als erste entdeckt hat – zu einem Hinausdrängen der Menschen aus dem materiellen Produktionsprozess. Weil aber Autos – produziert mit immer weniger Arbeitern – keine Autos kaufen können, erlahmt nach der 200jährigen Ausdehnungsphase des Kapitalismus in unserer Zeit dessen innerer Motor. Den Kampf ums Teewasser werden wir immer mehr mit der Forderung nach einem grundsätzlich anderen Wirtschafts- und Gesellschaftssystem zu verbinden haben, wenn wir in den bevorstehenden Stürmen überleben wollen.
Dazu wollen wir nach Kräften beitragen – und freuen uns auch für 2019 über neue Mitstreiterinnen und Mitstreiter. Wir haben eine Welt zu gewinnen. (ms)